memories I don’t have XVI, 2021
chemisch und manuell bearbeitete Fotografie, Transparentlack, reproduziert als Fineartprint, gerahmt // Ausstellungsansicht, memories I don’t have, SCHLEUSE, Kunst- und Kulturstiftung Opelvillen, Rüsselsheim, 2023


Unzählige Farbpartikel lösen sich und gleiten über die glatte Oberfläche des weißen Fotopapiers. Ihre ursprünglichen Plätze sind dafür bestimmt gewesen, das fotografische Abbild eines Menschen oder einer Landschaft zu erzeugen. Frisch entronnen suchen sie nun nach einem anderen Ort, der sie festhält. Miteinander verhakt zu noch nicht dagewesenen Verdichtungen, schaffen die Farbkristalle in ihrer jetzigen Zusammenkunft etwas Neues. Das Bild von einst ist von uns gewichen und damit gleicht es einem Erlebnis, das weit hinter uns liegt – so weit, dass die Erinnerung daran abhanden gekommen ist.

Wenn Johanna Schlegel Fotoabzüge für ihre Bildbearbeitungen verwendet, greift sie radikal in das anfänglich vorliegende Motiv ein. Seien es Portraits, Urlaubsdias oder beiläufige Schnappschüsse einer Geburtstagsfeier – das Material für ihre Werkserie mit dem Titel memories I don’t have entnimmt die Künstlerin dem familieneigenen Fotoarchiv. Ausgewählte Bilder aus Erinnerungsalben werden großformatig reproduziert und mit chemischen Lösungen feinneblig besprüht. Die bildkonstituierenden Farbteilchen baden somit im toxischen Nass, bis die Flüssigkeit verdunstet ist und eine raue Patina zurückbleibt. Im wiederholten Prozess dieser Oberflächenbehandlung verfremdet Schlegel die menschlichen Gestalten auf den Fotos, denen sie selbst angehört. Die Figuren werden zunehmend unkenntlich und transformieren sich in ein abstraktes Erscheinungsbild. Je weiter die einzelnen Partikel ihrem Ursprungsort entkommen, desto malerischer erscheint das Resultat, das schließlich mit Hilfe eines Klarlacks fixiert wird. Um welche früheren Ereignisse es sich bei den Unikaten handeln könnte, hält sich eigentümlich im Verborgenen. 



Die kaum vorherzusehenden Neustrukturierungen auf der obersten Papierschicht lassen Assoziationen ganz unterschiedlicher Art zu. So mögen manche Bildausschnitte teleskopischen Beobachtungen von dichten Stern-Konstellationen in fernen Galaxien ähneln. Die Vorstellung an eine mikroskopische Untersuchung von organischem Gewebe weist hingegen in eine entgegengesetzte Richtung. Woanders sind Rinnsale zu sehen, die an schlierige Regenpfützen erinnern. Oder ist es Rost, der hier und da auf Altgewordenes reagiert und sich ungehemmt über das Papier ausbreitet? Was auch immer durch die gravierende Behandlung neu hervorgebracht wird – die Momente von damals wurden deutlich angegriffen.

Indem die Abgebildeten jüngst zu neuem Leben erweckt wurden, konnten sie einem eingefrorenen Zustand zunächst entfliehen. Sie entziehen sich jedoch dem Versuch, ihnen näherzukommen, indem uns ihre nunmehr gespenstischen Gesichter auf befremdliche Weise ausdruckslos entgegenblicken. Wer sie sind? Woher sie kommen? Es lässt sich kaum mehr klären, was einmal war, nachdem der eine Augenblick längst von anderen Eindrücken übersät und von einem körnigen Farbgemisch überschwemmt ist. Das einstmalige Ich der Wiedererwachten ist überschrieben von ihrem eigenen Körperverlust. Doch dass sie als Subjekte existiert haben müssen, bezeugen sie auch heute noch in ihrer schemenhaften Präsenz. Allegorisch verkörpern die Fotogeister somit das Erinnern als einen dynamischen und vergänglichen Prozess, der sich stets neu auszurichten hat. In Abhängigkeit vom gegenwärtig Situierten erfolgt jeder Versuch einer gedanklichen Rekonstruktion als eine Neubetrachtung.



Doch was geschieht, wenn jegliche Erinnerung an einen Moment völlig versiegt, so wie es die memories I don’t have behaupten? Wenn selbst das Medium der Fotografie als Gedächtnisstütze keine Erinnerung mehr hervorruft? Mitunter werden unterbewusst Szenarien imaginiert, die weit ins Fiktive reichen. Die Fotografie ist aufgrund ihres uneingeschränkt geltenden Wahrheitsanspruchs nützlich bei der Vergangenheitsrekonstruktion, doch auch trügerisch, solange das in ihr dokumentierte Abbild unsere Vorstellung von Realität formt. So glauben wir nur zu wissen, wie sich eine fotografisch festgehaltene Situation ereignet haben könnte. Auf unscheinbar manipulierende Art wird unsere Selbstbehauptung, unsere Identität geprägt.

Johanna Schlegels memories I don’t have versinnbildlichen die Komplexität von Erinnerung. Dabei behandelt die Werkserie den Prozess des Erinnerns wie den Verlust von Erinnerung gleichermaßen. Im Fortgang der Zeit und angeregt durch äußere Einflüsse geben sich die künstlerischen Arbeiten als eine Heraufbeschwörung von Vergangenem zu erkennen, das sich in einer offenen Form präsentiert. In einigen Bereichen tritt der weiße Glanz des Fotopapiers wieder zum Vorschein. An diesen Stellen, wo die giftige Flüssigkeit das Versatzstück einer (Nicht-)Erinnerung entfernt hat, befreit sich auch die unterbewusste Bedeutungszuschreibung und der verbildlichte Spuk der Erinnerungsgeister mag ein Ende nehmen.


Text: Philipp Lange



memories I don’t have X, 2021

   
memories I don’t have III & V, 2021





   
Ausstellungsansicht, memories I don’t have, Kulturzentrum Englische Kirche, Bad Homburg, 2021