100 sunsets, 2020
Digitalprint auf PVC Folie, 425 x 550 cm, Projektion im Innenraum
Ausstellungsansicht, BOX, Isenburger Schloss, Offenbach, 2020
Die Sonne nähert sich dem Horizont. Eine Farbexplosion – rot, orange, violett, grün. Die Sonne wird größer, so scheint es zumindest, denn sie beginnt, ihren Abstieg in den Abgrund. An Bord des Mandjet, des Schiffes der Millionen Jahre, segelt Ra die Sonne in die Unterwelt.
Aber die Sonne geht nicht unter. Das wissen wir. Der Himmelskörper, auf dem wir stehen, kreist um sich selbst und um einen glühenden Stern aus einer fast perfekten Schicht heissen Plasmas, in dem in jeder Sekunde vier Millionen Tonnen Materie in Energie umgewandelt werden.
Und doch ist ein Sonnenuntergang wunderschön. Was wir sehen, gefällt uns. Die untergehende Sonne erzeugt ein Gefühl von Ehrfurcht, auch wenn sich der Vorgang naturgemäß immer wiederholt. Mit jedem Sonnenuntergang erleben wir gleichzeitig alle Sonnenuntergänge, die wir je gesehen haben – live oder reproduziert, von jemand anderem beschrieben oder in einem Bild festgehalten. Gedichte kommen uns in den Sinn. Wir atmen tief ein und versuchen, dieses Wunder in uns »aufzunehmen«, unsere Lungen mit Erstaunen und Verwunderung zu füllen.
Wir »nehmen« uns kaum »die Zeit«, einen Sonnenuntergang wirklich zu betrachten. Unseren Blick und unsere Aufmerksamkeit richten wir nur dann zum Horizont, wenn wir »Zeit haben« – am liebsten am Strand, auf einem Berggipfel oder an einem anderen Standort, an dem sich dieses wiederkehrende Phänomen wie eine Art Windows-Desktop-Bild darstellt. Vielleicht brauchen wir diese Inszenierung von Romantik und Stock-Foto-Bewusstsein, da dies im Grunde kein leichter Moment ist. Der Sonnenuntergang ist ein memento mori, er konfrontiert uns mit dem unvermeidlichen Verstreichen der Zeit. Er ist das unumgängliche Ende, das Flüstern des Sterbens, nach dem nur Dunkelheit kommt. Man sieht, wie sich das eigene Leben in den verschwindenden Strahlen widerspiegelt. Ein einzigartiges, individuelles, autarkes Wesen, konfrontiert mit der Vorstellung des eigenen Todes.
»Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein,« schreibt Nietzsche.
Im Laufe der Geschichte haben Menschen verschiedene Modelle entwickelt, um mit dieser Leere umzugehen. Von Ras Boot bis zu der Zeit, als »Gott [...] zwei große Lichter [machte]: ein größeres Licht, das den Tag regiere, und ein kleineres Licht, das die Nacht regiere,« oder der Wanderer, der im Gebirge steht und durch sein eigenes ruheloses Herz die Natur überblickt. Diese Geschichten ermöglichten den Menschen, Gemeinschaften zu bilden, Wissen zu vermitteln und sich über die Grenzen des Ichs hinaus in eine ‘Erinnerungsgesellschaft’ zu entwickeln. Dieses kollektive Wissen ermöglichte technologische Fortschritte: Es ist nicht lange her, dass der erste Mensch in den Weltraum geschickt wurde, der die Grenzen der Erde in einem gut geschützten Druckanzug überwand. Dort oben in den Lüften drehte er sich um, schaute auf die Erde herunter und machte ein Foto. Ein Bild von einem teilweise von Wolken bedeckten, runden Planeten. Ein Blick zurück aus dem Abgrund.
Ein anderes, erst vor kürzerer Zeit aufgenommenes Bild erzählt eine andere Geschichte. Das Event Horizon Telescope, ein Netz von Teleskopen, das sich zwischen dem Südpol und Spanien erstreckt, richtete den Blick gleichzeitig in den Himmel. Dieses Mal war es nicht der einzelne, menschliche Blick durch den Sucher, sondern vielmehr der Durchmesser des Planeten selbst. Ausgerichtet auf einen 53 Millionen Lichtjahre entfernten Punkt, Zeit und Raum jenseits des Vorstellbaren durchquerend gelang es dem Event Horizon Telescope, ein Schwarzes Loch abzubilden.
»Die existenzial-zeitliche Bedingung der Möglichkeit der Welt liegt darin, daß die Zeitlichkeit als ekstatische Einheit so etwas wie einen Horizont hat,« schreibt Martin Heidegger. Jenseits dieses Horizonts, dort wo die Sonne untergeht und der Raum in Einheiten von Lichtjahren gemessen wird, hört die Welt als Welt auf zu existieren. Die Sonne ist keine lebensspendende Gottheit mehr, sondern vielmehr ein bestimmter astronomischer Körper. Damit gewinnt die Technologie an Macht und beginnt, die geozentrische, kreationistische Perspektive zu unterminieren, die Grundlage ihrer eigenen Entwicklung. Wie Benjamin Bratton hervorhebt, könnten diese Technologien unsere Welt zerstören. Was wir jedoch gewinnen könnten, ist ein Planet.
Man blickt lange in den Abgrund. Die Betrachtung löst sich in einer Leere auf, die nicht zurückblickt.
Johanna Schlegels Ausstellung in der BOX nimmt ihren Ausgangspunkt in einer Sammlung von Sonnenuntergangsfotografien. Fotografien, die den Rahmen setzen für den aufgeladenen Moment der bald verschwindenden Sonne, während ihre Strahlen sich selbst in die Oberfläche der Gelatineemulsion einschreiben. Die mikroskopisch, lichtempfindlichen Silberhalogenidkristalle in der Emulsion halten das Licht fest. Schlegel legt die Fotografien anschließend in ein Lösungsmittel, das die Farbe vom Papier trennt. Die Erinnerung an das Licht wird extrahiert und das Bild in eine raue Materialität aus Emulsion und Mineralien verwandelt. Dieses Material wird in einer Petrischale gesammelt und auf die Glasfläche eines Overheadprojektors gelegt. Das Licht geht unter der Glasplatte an, durchstrahlt die Petrischale, fällt in den darüber montierten Spiegel, wird durch die Linse vergrößert und an die Wand geworfen.
Das Bild, das an der Wand erscheint, ist kein Bild der Sonne, sondern vielmehr ein Bild unserer Welt. Die Ähnlichkeit zwischen der Sonne, dem Planeten Sonne, dem ständig Wasserstoff und Helium verbrennenden Giganten und dem Schatten, den die Petrischale wirft, ist eine unheimliche Begegnung. Aber es ist wieder ein Zeichen, eine Markierung, auch wenn es indexikalisch ist. Ein mit Bedeutung aufgeladenes Fragment innerhalb einer Welt, die aus verwobenen Verbindungen, Erzählungen und Vorstellungen besteht. Eine Welt mit einem klaren Horizont, hinter dem die Sonne jeden Tag untergeht.
Text: Ben Livne-Weitzman
Skizze des Ausstellungsraumes mit schematischer Anordnung der Arbeit
Petrischale mit abgetragener Gelatineschicht der 100 Fotografien, Overheadprojektor, Bewegungsmelder, Projektion, Ausstellungsansicht, BOX, Isenburger Schloss, Offenbach, 2020
Petrischale mit abgetragener Gelatineschicht der 100 Fotografien
Detailansichten
Im Rahmen der Ausstellung »100 sunsets« in der BOX (Isenburger Schloss, Offenbach) fand am 15.11.2020 der Online-Vortrag »Die Sonne & ihre visuellen Phänomene« von Dr. Benjamin Knispel vom Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik in Hannover statt.